Noch ist Anetts Geschichte eine ohne happy end: Im Dezember 2021 sitzt die zweifache Mutter in einem Beratungsraum der Stadtmission. »Gerade eben schaut er sich eine eigene Wohnung an. Wir wollen seinem Verfall nicht mehr zuschauen«, sagt die 39-Jährige über ihren Mann. Auch die beiden Kinder können ihrem Vater nicht mehr trauen. »Wir möchten nicht mehr, dass Mama weint«, sagen sie. Aufgegeben, so scheint es, hat auch der Mann, um den es geht: Systeminformatiker, passionierter Fußballfan und lange Jahre einer, »der beim Trinken immer viel zurückhaltender war als andere«, erzählt Anett. Doch das gilt schon lange nicht mehr.
Mit der Sucht kamen Heimlichkeit und Misstrauen
Sandro Benteles* pathologische Beziehung zum Alkohol nahm vor acht Jahren seinen Anfang. »Ich kam in den Keller und sah meinen Mann mit einer Flasche Bier – auf Ex trinken. Warum trinkst du hier!? Warum heimlich??«. Etwas Einmaliges sei das gewesen, »einfach so ein Gelüst«, lautete damals die Antwort ihres Mannes. Für Anett war es die erste Grenzüberschreitung.
Es ist nicht so, dass das Drama seither seinen Lauf nahm, aber es kündigte sich an – vorsichtig noch, übergehbar. Er habe ihr sogar einen Brief geschrieben, den Vorfall bereut, erzählt sie. »Ich dachte damals, er hat’s verstanden. Zwei, drei Jahre war Ruhe. Alles war gut. Bis es wieder passierte.« Dabei war es weniger das Trinken, der Alkohol selbst, der sie alarmiert habe. »Das Heimliche war das Schlimme«. In ihr wuchs die Angst, dass sich ein vertrautes Szenario ihrer Kindheit wiederholt: »Seitdem ich denken kann, weiß ich, dass mein Papa heimlich trinkt. Das ist das Dauerthema meiner Eltern.« Erica Metzner, Leiterin des Suchthilfezentrums der Stadtmission sagt dazu: »Zu erkennen, dass die gleichen Suchtmuster, unter denen jemand als Kind gelitten hat, in der eigenen, selbst gegründeten Familie als Erwachsene wieder einholen, löst viel aus, oft Gefühle von Ohnmacht, Schuld, auch Scham. Sich dann trotzdem aufzumachen und Lösungsstrategien zu suchen, die eben nicht den Vorbildern aus der Kindheit entsprechen, ist oftmals nicht einfach.«
Hilfreiche Brücken statt Druck aufbauen
Anett hielt sich zunächst an die Hoffnung, auch weil Sandro nie nur mit dem Alkohol, sondern vor allem seiner Psyche kämpfte. Vor vier Jahren habe sie bewusst gemerkt, wie er sich veränderte, dass er nicht mehr lachen konnte. Für Anett sei er immer fremder, immer passiver geworden. »Sogar beim Fußball, seiner absoluten Leidenschaft, haben die Emotionen nachgelassen. Ich hätte nicht mehr sagen können, wann beim einem TV-Spiel ein Tor gefallen war. Da war nur Stille.« Anett schaute nicht einfach zu, überzeugte ihn zwischenzeitlich sogar einen Therapieversuch zu wagen. »Ich habe es immer so gesehen: Ja, mein Mann ist krank. Da waren die Depressionen, vielleicht ein Burnout.« Dass auch der Alkohol bereits ein manifestes Problem sein könnte, deutet sich nach dem ersten psychiatrischen Klinikaufenthalt ihres Mannes an. »Alkoholmissbrauch im Zuge der Depression« stand da im Arztbrief. In der Klinik, sagt Anett, habe er »sich noch zusammengerissen und sich früh entlassen lassen«. Dem Druck im Alltag aber habe er nicht standhalten können. Dazu kam: »Wir waren schlecht versichert. Uns ging das Geld aus. Er dachte nur, ich muss wieder arbeiten! Das war ein Mega-Druck.« Der Alkohol schien diesen scheinbar zu erleichtern – immer häufiger fand Anett leere Flaschen im Haus.
Corona wurde zum Brandbeschleuniger
Pandemieleben und Lock-Downs verschärften nicht nur im Hause Bentele das Familienleben und mit ihm den Suchtdruck. Angehörigenberaterin Beate Schwarz vom Suchthilfezentrum: »Wir haben das in dieser Zeit in etlichen Gesprächen erlebt. Die soziale Enge, die fehlende Ablenkung, die äußeren Strukturgeber, die weg waren. Da sind viele, auch vollkommen unauffällige Männer, in ein problematisches Trinkverhalten gerutscht.« Auch Anett Bentele sagt: »Die Coronasituation war sein Untergang. Er konnte nicht ins Büro, konnte nicht ungestört arbeiten. Und seine Beschaffungswege für den Alkohol waren plötzlich weg. Jetzt musste er rausgehen zum Trinken oder die Flaschen im Haus verstecken.« Und Anett musste zuschauen, wie ihre Grenzen gesprengt wurden: »Es ging steil bergab. Ich hab überall Dosen gefunden. In der Werkzeugbank, zwischen den Spraydosen, im Rucksack. Das Bier klebte im Schrank. Ich wusste er fährt so auch Auto.« Anett Bentele ließ es nicht geschehen. Sie bestellte Infomaterial von Beratungsstellen und Entzugskliniken, konfrontierte ihn: »Willst du deine Familie retten?«.
»Mein Bauchgefühl gab mir wieder Orientierung«
2021 wendet sie sich erstmals ans Suchthilfezentrum (SHZ) der Stadtmission Nürnberg. Angehörigenberaterin Beate Schwarz hilft Anett Bentele, sich im Wirrwarr der eigenen Hoffnungen und Selbstzweifel zurecht zu finden: »Wir sprachen zum Beispiel über das Hin und Her bei uns zuhause. Wir hatten diesen Promillemesser. Mein Mann sollte regelmäßig pusten, als vertrauensbildende Maßnahme sozusagen. Angeblich war dann das Gerät immer kaputt.« Mit einem simplen Satz habe ihre Suchtberaterin Schwarz zu einem kleinen Durchbruch verholfen: »Wenn ihr Bauchgefühl sagt, ihr Mann hat getrunken, dann stimmt das meistens.« Anett Bentele gewann dadurch wieder mehr Vertrauen zu sich selbst, orientierte sich an ihren eigenen Grenzen, suchte regelmäßig Unterstützung in der Angehörigengruppe des SHZ.
Für die 39-Jährige ist es nicht die Suchtkrankheit als solche, sondern die wiederkehrenden Vertrauensbrüche ihres Mannes, die sie zermürben. Denn die seien auch ein Problem für ihre Kinder. »Missbräuchlicher Alkoholkonsum macht Menschen unvorhersehbar. Wenn Kinder ihre abhängigen Eltern ständig in dieser Wechselhaftigkeit erleben, belastet sie das enorm, sie vertrauen ihrer Umwelt immer weniger, entwickeln Selbstzweifel«, so Schwarz.
Heute habe sie keine echte Hoffnung, sagt Anett Bentele. Mit einer Trennung von ihrem Mann drohe ihr der »wirtschaftliche Untergang« und doch wisse sie zweifellos: »Ich will die Ehe meiner Eltern NICHT.« Sie meint eine Ehe, in der die Sucht als ständiges Familienmitglied mitregiert, in der er verheimlicht und sie – mal erzieherisch, mal schönredend – die Familienruhe zu sichern versucht. Es ist eine konsequente Haltung. Dass Anett Bentele damit irgendwann ein happy end erlebt, bleibt zu hoffen.
Angehörigenberatung im Suchthilfezentrum
Angehörige suchtkranker oder missbräuchlich konsumierender Menschen können im SHZ kostenlos und unverbindlich einmalig oder regelmäßig Beratungsgespräche in Anspruch nehmen. Auch gemeinsame Sitzungen mit dem suchtbetroffenen Angehörigen sind jederzeit möglich. Außerdem steht ihnen eine moderierte Angehörigengruppen zur Selbsthilfe offen. Alle Gespräche bleiben streng vertraulich.
Seit 50 Jahre unterstützt das Suchthilfezentrum Menschen und Familien mit Suchtproblemen aller Art. Entsprechend fundiert ist der therapeutische und organisatorische Erfahrungsschatz der Einrichtung und sein Netzwerk zu weiterführenden Hilfestellen umfangreich. T. (0911) 376 54 – 200 | shz@stadtmission-nuernberg.de
*Namen geändert