»Junge Migranten*innen haben ein riesiges Potenzial«

Seit 60 Jahren hilft der Jugendmigrationsdienst (JMD) der Stadtmission Nürnberg jungen, zugewanderten Menschen sich in Nürnberg zu etablieren. Von dieser Arbeit profitieren Migranten*innen und Stadtgesellschaft gleichermaßen. Am 30. Juni ist der bundesweite Aktionstag der Migrationsberatung 2021.

An einem Stehtisch steht die rothaarige Elke Dörr einer jungen Frau mit Kopftuch gegenüber.

Elke Dörr mit ihrer ehemaligen Klientin Sheila* (von hinten), die mit ihrem richtigen Namen nicht in die Öffentlichkeit möchte.

Seit 60 Jahren unterstützt der weitgehend vom Bundesfamilienministerium finanzierte Jugendmigrationsdienst der Stadtmission Nürnberg, ehemals Jugendgemeinschaftswerk und Jugendgilde, tausende junge Menschen im Alter von 12 bis 27 Jahren bei ihrer sozialen, schulischen und beruflichen Entwicklung und Integration. »Es geht darum, dass sie ein selbstbestimmtes, erfolgreiches Leben mit einer guten Zukunftsperspektive führen können«, sagt Elke Dörr, Leiterin des Jugendmigrationsdienstes. Durchschnittlich 400 junge Zugewanderte begleitet der JMD in Nürnberg derzeit jedes Jahr und wirkt damit der Chancenungleichheit entgegen. Denn neben Sprache oder Institutionenwissen fehlen den jungen Leuten oft die Netzwerke, um in Nürnberg Fuß zu fassen. Andererseits brächten sie oft einen beeindruckenden Ehrgeiz und Fleiß mit.

Ganz konkret hilft der JMD den Jugendlichen zum Beispiel eine Ausbildung zu suchen und Bewerbungen zu schreiben. Er erklärt Behördenangelegenheiten, vermittelt Berufspraktika oder Nachhilfe und hilft einen Kinderbetreuungsplatz zu finden. »Im Grunde sind wir Mädchen für fast alles«, fasst Elke Dörr die Arbeit zusammen. Dabei sind die Herausforderungen in jedem Fall unterschiedlich und immer sehr vielschichtig. »Unsere Mitarbeitenden brauchen deshalb ein extrem breit gefächertes Fachwissen und Flexibilität«, meint Dörr.

Als Teenie nach Deutschland geflüchtet, heute Studentin

Sheila* war 13, als sie mit ihren Eltern und sieben Geschwistern aus Syrien nach Deutschland flüchtete. In einer Gemeinschaftsunterkunft in Weiden fing die Familie neu an. Elke Dörr und ihr Team begleiten Sheila seit 2018. »Sheila war immer sehr schüchtern, aber mindestens genauso ehrgeizig und diszipliniert.«

Das Team des Jugendmigrationsdienstes erkannte Sheilas Potenzial. Es half ihr, in die 11. Klasse einer Fachoberschule aufgenommen zu werden, organisierte ihr eine regelmäßige ehrenamtliche Einzelförderung und unterstützte sie bei der Praktikumssuche und beim Berichteschreiben.

»Wir haben immer wieder mit Sheilas Lehrkräften bis hin zur Schuldirektion gesprochen. Sie hatte zum Beispiel Angst, vor der Klasse zu sprechen, weil sie früher wegen der Sprache ausgelacht worden war. Am Ende durfte Sheila ihre mündlichen Prüfungen dann ohne Publikum absolvieren«, erinnert sich Dörr. Inzwischen ist die junge Frau viel selbstbewusster. Geholfen hat ihr dabei auch die »Lesewerkstatt« des JMD: Junge Migranten*innen wie Sheila werden hier von einer Sprachtrainerin geschult, um Kindern oder älteren Menschen ehrenamtlich vorzulesen. Das macht sie mutiger und sprachsicherer.

Sheila sagt selbst: »Sie haben an mich geglaubt. Das war sehr wichtig für mich«. Heute studiert die 21-Jährige im dritten Semester Medizintechnik an der Technischen Hochschule Nürnberg und hat einen unbefristeten Aufenthalt in Deutschland.

Spurwechsel ermöglichen

»Die Sicherheit, bleiben zu können und nicht in ein paar Monaten oder Jahren wieder bei null anfangen zu müssen, hilft den Jugendlichen, um ihre Herausforderungen in Schule, Ausbildung, Sprache usw. überhaupt zu schaffen«, meint Elke Dörr. Mindestens 70 % der heutigen JMD-Klienten*innen haben eine Fluchtgeschichte, die Mehrheit davon stammt aus den Kriegs- und Krisengebieten in Syrien und im Irak. 

In Bayern starteten sie als Asylsuchende. Viele der Beratenen haben jedoch keinen sicheren Aufenthaltsstatus. Sie wissen also nicht, wie lange sie in Deutschland bleiben dürfen. Sozialpädagogin Elke Dörr hält es demnach für richtig, den sogenannten »Spurwechsel« gesetzlich zu ermöglichen: »Viele der jungen Leute haben ein riesiges Potenzial und könnten sich erfolgreich in unserem Arbeitsmarkt und unserer Gesellschaft einbringen. Wer eine Berufsausbildung oder einen Arbeitsplatz hat, sollte unter bestimmten Bedingungen auch einen sicheren Aufenthaltstitel erlangen können. Das wäre ein Gewinn für uns alle.«

Globale Migrationsbewegungen spiegeln sich seit 60 Jahren im JMD

Seit den Gründungsjahren spiegeln sich im JMD immer wieder Wanderungsbewegungen aus aller Welt: So suchten in der Anfangszeit v.a. Kriegsvertriebene, Übersiedler aus der DDR und Aussiedler*innen aus der ehemaligen Sowjetunion die Beratungsstelle auf. Als sich die Einrichtung 2001 für alle zugewanderten jungen Menschen mit Aufenthaltsperspektive öffnete, kamen auch junge Erwachsene aus allen Staaten der Europäischen Union sowie Geflüchtete aus dem Nahen Osten und aus afrikanischen Ländern in den JMD. Seit 2017 erweiterte sich die Zielgruppe nochmals auf junge Geflüchtete mit einer ausländerrechtlichen Duldung oder einer Aufenthaltsgestattung.

»Wir fördern und begleiten jeden so lange und intensiv wie nötig. Das galt auch in den Corona-Monaten: Wir waren immer erreichbar, notfalls hielten wir unsere Beratung sogar bei Regen im Freien ab.« Diese selbstverständliche Erreichbarkeit sei für den Jugendmigrationsdienst 2020/21 ein zentrales Anliegen gewesen, meint Dörr. »Denn viele unserer jungen Menschen hatten ansonsten monatelang so gut wie keine Kontakte mehr. Sie waren dankbar, zu uns kommen zu dürfen.«

 

Wie äußern sich junge Migranten*innen selbst über die Arbeit des Jugendmigrationsdienstes? Einige Stimmen und Blitzlichter hat die Evangelische Jugendsozialarbeit (ejsa) anlässlich des Aktionstages der Migrationsberatung in einem Film​​​​​​​ zusammengestellt. 
 

*Name geändert

 

 

Hilfe im Leben – Stadtmission Nürnberg