Reha für psychisch kranke Jugendliche: »Wir können hier mehr als Hoffnung machen«

Mehr als 84.000 bayerische Jugendliche ab 15 Jahren wurden 2014 in einer psychiatrischen Klinik oder therapeutischen Praxis behandelt. Schon damals stiegen die Fallzahlen jedes Jahr, mit der Corona-Pandemie aber kam Öl ins Feuer: Das ist 2022 an der Überlastung der bayerischen Kinder- und Jugendpsychiatrien ebenso abzulesen wie an der Überforderung vieler Familien. Denn selbst nach einer klinischen Behandlung ist die Welt für betroffene Teenager nicht einfach wieder in Ordnung. Wie und wo das dennoch gelingen kann, zeigt ein Blick in die Jugend-Reha der Stadtmission Nürnberg und die letzten Monate der 18-jährigen Anne.

»Mir kam der Lock-Down entgegen. Es gab gar keinen Grund mehr raus zu gehen, ich konnte jedem aus dem Weg gehen.« Anne, heute 18, war schon lange depressiv, als die Corona-Pandemie im März 2020 ihr Teenager-Leben auf Stand-By setzte. Damals hatte sie bereits ihren dritten Suizidversuch und den ersten langen Aufenthalt in einer Jugendpsychiatrie hinter sich. An einen normalen Schulalltag nach Entlassung war für sie nicht zu denken. »Ich hatte nach der Klinik gerade meinen ersten Termin draußen bei einem Psychologen, da las ich in der WhatsApp-Gruppe, habt ihr schon für die EX gelernt ?!‘. Keiner hatte mir Bescheid gesagt! Das war zu viel für mich – ich konnte nicht in die Schule zurück.« Was Anne rückblickend schildert, ist typisch: »Oft kommen die Jugendlichen wegen ihrer Erkrankung im üblichen Schulsetting nicht mehr mit. Das treibt dann die Angst- und Vermeidungsspirale an. Aber dieser Teufelskreis lässt sich unterbrechen«, betont Anita Krivec, die die Nürnberger Jugend-Reha zusammen mit ihrer Kollegin Bärbel List leitet.


Freier Fall in der Pandemie: Leere im Kopf, Leere im Außen

Etwa ein halbes Jahr saß Anne nach der panikauslösenden Nachricht im Klassenchat zuhause, lebte ins Leere hinein – bis sie endlich einen Platz in einer therapeutischen Tagesklinik bekam. Doch kaum eine Woche dort, zwang sie der erste Lock-Down 2020 ins einsame Warten nach Hause zurück. »Ich wollte in meinem Zimmer nicht den ganzen Tag nur über meine Probleme nachdenken – also hab ich mich ständig mit Technik abgelenkt.« Auch wenn Anne erst einmal froh war, sich verschanzen zu können – die Einsamkeit verschlimmerte ihre Situation: »Richtige soziale Ängste hatte ich irgendwann, vor jedem, schon wenn ich nur mal zum Bäcker raus sollte. Das war ganz schlimm.« Sozialpädagogin Krivec sagt dazu: »Das ist der Pandemie-Effekt: Psychiatrische Krankheitsbilder oder bedenkliche Dispositionen haben sich massiv verfestigen und verschärfen können. Der Leere, dem Chaos im Kopf standen im Außen keine stabilisierenden Routinen mehr gegenüber.«

Depressionen, Angststörungen, Mediensucht – was Anne durchmachte, spiegelt sich in den Statistiken der deutschen Krankenkassen gleichermaßen wider: Die jüngsten Zahlen hat die DAK im Februar 2022 aus Berlin veröffentlicht: 17 % Jugendliche mehr als im Vorjahr seien demnach 2020 an einer schweren Depression erkrankt – man kann wohl bundesweit von einem ähnlichen Trend ausgehen.


Gut erwachsen werden – nach oder trotz psychischer Erkrankung

Die meisten Teenager, die heute in der Jugend-Reha behandelt werden, waren allerdings bereits vor der Pandemie psychisch auffällig oder diagnostiziert. Neben schweren Depressionen zählen Schizophrenie sowie Angst- und Zwangsstörungen zu den häufigsten Befunden. Einige haben Suizidversuche hinter sich oder sind durch selbstverletzendes Verhalten aufgefallen. Ebenso Anne, die drei Mal eine lebensgefährliche Überdosis Medikamente schluckte, bis ihr akuter Behandlungsbedarf auch anderen auffiel. »Bei Kindern bis 14 Jahren sind es mit Abstand mehr Jungen, die psychisch auffällig werden. Doch ab 15 dreht sich dieses Verhältnis und die Mädchen erkranken häufiger«, weiß die Sozialpädagogin und Reha-Leiterin Krivec.

Sie und ihr Team helfen deshalb jungen Leuten in der Reha, wieder so etwas wie Normalität und damit auch Sicherheit ins Leben zu bringen. Die meisten Jugendlichen werden nach längeren Klinikaufenthalten in die 2020 eröffnete Stadtmissions-Einrichtung vermittelt. Hier wohnen sie in Wohngruppen zusammen, gehen regelmäßig zur Psychotherapie und üben auch in Sachen Haushalt selbstständig zu werden. Hinzu kommt behutsamer, individueller Unterricht in einer Schulklasse für Kranke, ergotherapeutische und soziale Förderung und berufliche Orientierungsangebote – und aus all dem wächst für die Jugendlichen wieder eine Perspektive, wie es trotz psychischer Erkrankungen gut für sie weitergehen kann.

Anne hat sich in den vergangenen 13 Monaten allen voran in der ergotherapeutischen Arbeit der Jugend-Reha finden und ausleben können. Viele ihrer kreativen Arbeiten hängen in den Fluren des dreistöckigen Reha-Hauses im Nordostpark. Im Sommer wird sie die Einrichtung verlassen – mit in der Tasche die Aussicht auf einen Ausbildungsplatz zur Floristin im Nürnberger Land. »Ich kann mir inzwischen vorstellen, allein zu leben – irgendwo hier in der Nähe – wo jetzt meine Freunde sind.«

Hilfe im Leben – Stadtmission Nürnberg