Hilfe im Leben

Reger Austausch beim Fachtag zur Psychiatrie-Enquête

NÜRNBERG. Vor 50 Jahren erschien die vom Bundestag beauftragte Psychiatrie-Enquête. Der Bericht beschrieb „elende, zum Teil menschenunwürdige“ Zustände in psychiatrischen Anstalten, worauf sich der Umgang mit seelisch Erkrankten in der Bundesrepublik zum Besseren wandelte. Aber ist heute alles gut? Die Stadtmission Nürnberg e. V. nutzte das Jubiläum, um beim gut besuchten Fachtag „Psychiatrie zwischen Inklusion und Versorgungskrise – Wo wollen wir hin?“ unter anderem diese Frage zu diskutieren.

Knapp 180 Teilnehmende füllten den Sophiensaal am Lorenzer Platz, sehr zur Freude von Anke Triebel. Die Leiterin des Bereichs Seelische Erkrankung, Autismus und Sucht bei der Stadtmission begrüßte die zahlreichen Gäste und dankte für die gute Organisation des Fachtags. Kai Stähler, Vorstandsvorsitzender der Stadtmission Nürnberg, erinnerte in seiner Rede an den Filmklassiker „Einer flog übers Kuckucksnest“ mit Jack Nicholson: „Er spielt in einer ‚psychiatrischen Heilanstalt‘, in der psychisch kranke Menschen mit Elektroschocks misshandelt und mit Medikamenten ruhiggestellt werden.“ Ob die bundesdeutsche Realität 1975 ähnlich aussah, könne nicht abschließend beurteilt werden. Fakt sei jedoch, dass Betroffene damals meist in großen Anstalten verwahrt wurden und ihnen viele Angebote des Gesundheitssystems damit verwehrt blieben. Und heute? „Heute ist vieles besser“, ist sich der Vorstandsvorsitzende sicher und verwies in diesem Zusammenhang auf die zahlreichen Einrichtungen der Stadtmission für psychisch Erkrankte – mitten in unserer Gesellschaft. Dazu zählen etwa das Maria-Augsten-Haus als besondere Wohnform sowie der Sozialpsychiatrische Dienst zur Beratung. Hinzu kommen viele weitere Angebote in Trägerschaft der Stadtmission Nürnberg.

Für Verwunderung im Publikum sorgte Dieter Reichl aus dem schweizerischen Winterthur. Der Diplom-Psychologe zückte aus seinem Portemonnaie einen 50-Euro-Schein. „Wer von Ihnen möchte das Geld haben? Ganz ehrlich, ohne Spaß“, versprach er. Nachdem die meisten Hände in die Höhe gegangen waren, zerknüllte er die Banknote und stellte seine Frage erneut – bei gleicher Nachfrage unter den Gästen. Auch als er den Schein auf den Boden warf und darauf herumtrampelte, ließ das Interesse der Zuhörerschaft am schnell verdienten Geld nicht nach. Reichl nutzte dies als Metapher: „Sehen Sie? 50 Euro bleiben eben 50 Euro. Und so ist es auch mit dem Wert eines Menschen. Egal, wie zerknittert wir uns fühlen, wie sehr wir am Boden sind und uns mit Füßen getreten fühlen – wir bleiben wertvoll!“ Entsprechend wichtig sei Wertschätzung, gerade auch für psychisch kranke Menschen.

„Recovery“ außerhalb der Klinikmauern

Wertschätzung sei zudem ein wichtiger Faktor für „Recovery“. Diese relativ neue Richtung in der Sozialpsychiatrie meint nicht nur die klinische Gesundung im Sinne von Symptomfreiheit, sondern misst auch der persönlichen Ebene der Betroffenen einen großen Stellenwert bei. „Ist mein Leben wieder lebenswert? Fühle ich mich wohl? Entdecke ich Sinnhaftigkeit für mich? Recovery findet auch außerhalb der Klinikmauern statt. Und sie ist ein langer Prozess, eine Transformation des Selbst“, veranschaulichte der Redner. Diese gelänge nur, wenn ein Umdenken bei Behandlern*innen und Betroffenen stattfände, hin zu einem neuen Rollenverständnis. „Wir professionell Tätige müssen weg von der Idee, dass wir die Wissenden und die Erkrankten die Unwissenden sind. Und Patienten müssen bereit sein, Verantwortung zu übernehmen und so Autonomie zu erlangen“, forderte Reichl und widersprach gleichzeitig dem Dogma von der Unheilbarkeit einer psychischen Erkrankung: „Genesung ist möglich!“

Wichtig seien dafür auch sogenannte Genesungsbegleiter. Einer von ihnen ist Joachim Meyer. Der Augsburger erlitt vor einigen Jahren eine psychotische Episode und schlitterte in die Depression und Alkoholsucht. Nach vielen Klinikaufenthalten nutzt er seine Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen nun, um andere Betroffene beim Gesundwerden zu begleiten. „Mein Makel wird so zur Ressource“, brachte es Meyer auf den Punkt, der seit 2011 als EX-IN-Genesungsbegleiter arbeitet. Dabei steht er mehrere Wochen pro Stunde den Bewohnern*innen einer Einrichtung für psychisch Kranke beratend zur Seite, ergänzend zu den anderen Fachkräften. Sein großer Vorteil dabei: „Ich genieße bei den Betroffenen einen Vertrauensvorsprung, weil ich quasi einer von ihnen bin.“ „Einer von ihnen“, das ist auch Harry Knappe, der sich in der eifrigen Diskussion zwischen dem Referenten und Publikum zu Wort meldete. Auch er arbeitet seit einigen Jahren als „Peer“, also Bezugsperson für psychisch Kranke und komplettiert das Team des Maria-Augsten-Hauses der Stadtmission. Wer als EX-IN-Genesungsbegleiter tätig werden möchte, muss zuvor eine entsprechende Weiterbildung absolvieren. Angeboten wird diese aktuell etwa von der Stadtmission, wie Anke Triebel ergänzte und damit um Interessierte warb.

Workshops und Infostände

Nach der Mittagspause verteilten sich die Besucher*innen des Fachtags auf insgesamt vier 90-minütige Workshops. Auf dem Programm standen die Themen „Recovery in der Praxis“, „Was braucht eine recovery-orientierte Einrichtung?“, „Peerarbeit in der Praxis“ und „Identität jenseits der Diagnose“. Inspiriert von frischen Ideen und Anregungen, auch für die tägliche Arbeit, schlenderten die Gäste des Fachtags anschließend durch die verschiedenen Stockwerke des Sophiensaals von einem Infostand zum anderen. Dort stellte sich unter anderem der Sozialpsychiatrische Dienst (SPDI) der Stadtmission Nürnberg vor.

Als Zeitzeuge referierte Dr. med. Helmut Sörgel über die Psychiatrie-Enquête. Der Psychiater und Träger der Nürnberger Bürgermedaille war 32 Jahre alt, als der Bericht veröffentlicht wurde. „Ich habe ihn damals mit großer Begeisterung gelesen“, erinnerte er sich. Erst durch die Enquête hätten sich die Zustände für psychisch Erkrankte gebessert, nachdem bis tief in die 60er-Jahre hinein in den Kliniken noch die menschenverachtende Politik des NS-Regimes nachgewirkt habe.

„Ist jetzt alles gut?“: Diskussion zum Zustand der psychiatrischen Versorgung

Nach weiteren Ausführung zur Geschichte der Enquête übernahm Kurt Heidingsfelder das Mikro. Er moderierte den Schlusspunkt des Fachtags und begrüßte zur Podiumsdiskussion sechs hochkarätige Teilnehmer*innen. Sie widmeten sich der Frage „50 Jahre Psychiatrie-Enquête – Ist jetzt alles gut?“. Gewiss nicht, lautete der einhellige Tenor. Und trotzdem: „Wenn sich nichts gebessert hätte, dürfte ich heute gar nicht hier sitzen“, stellte Brigitte Richter von der Pandora Selbsthilfegruppe Psychiatrie-Erfahrener e.V. klar. Aus der klinischen Praxis berichtete Dr. Christine Bofinger, Oberärztin am Klinikum Nürnberg. Michael Schubert, Vorstand des Caritasverbands Nürnberger Land, lobte den Ausbau der Kliniken im psychiatrischen Bereich, forderte zugleich jedoch mehr Förderung für komplementärpsychiatrische Einrichtungen. „Wir wollen weiterhin eine wohnortnahe Versorgung sichern“, versprach Peter Daniel Forster, Bezirkstagspräsident Mittelfranken, insbesondere mit Blick auf die Krankenhäuser. „Ich plädiere für eine ausreichende Finanzierung der sozialpsychiatrischen Dienste. Es muss ausreichend Angebote zur Prävention geben, damit Betroffene nicht gleich in die Klinik müssen“, forderte die Vorstandsvorsitzende des Vereins Angehöriger und Freunde psychisch Kranker in Mittelfranken e.V. (APK), Ingrid Geier. Martin Kunz, Einrichtungsleiter des Marianne-Leipziger-Hauses der Stadtmission Nürnberg, wünschte sich mehr Kommunikation mit den Verantwortlichen der Krankenhäuser. Das sei wichtig, denn: „Wenn ein Patient aus der Klinik kommt, übernehmen wir mit unserer komplementären Unterstützung.“

Nach der Diskussionsrunde verabschiedete Anke Triebel die Gäste und beendete damit einen gelungenen Fachtag, an dem auch viele Betroffene teilgenommen und die Veranstaltung mit ihren Fragen und Beiträgen bereichert hatten. Somit ist den Organisatoren der Spagat zwischen Fachpublikum und Erkrankten wunderbar gelungen.