»Wissenslücken sind vielleicht das kleinste Problem«

Kinder und Jugendliche aus strukturell benachteiligten Familien zählen zu den größten Verlierer*innen der Corona-Pandemie. Wie tief die Verwerfungen nach monatelangem Heimunterricht, Kontaktbeschränkungen und Existenzängsten in den Familien für sie sind, wird nach und nach sichtbar. Klar ist: Ohne zielgerichtete Hilfe werden viele der benachteiligten Kinder zu Abgehängten. Die Stadtmission ruft zum Spenden auf, um junge Menschen entsprechend unterstützen zu können.

NÜRNBERG.    »Die Hausaufgaben sind leichter zu lösen, wenn ich in die Schule gehe«, sagt der 9-Jährige Daniel, der mit seiner Familie in einem großen Mietkomplex am Kirchenweg in Nürnberg wohnt. Normalerweise kommt er nach der Schule regelmäßig in die Spiel- und Lernstube Lobsinger der Stadtmission, nimmt am gemeinsamen Mittagessen teil, löst seine Hausaufgaben, spielt Theater, knobelt oder trifft sich hier mit seinen Freunden zum Basketballspielen. Doch als die zweite Infektionswelle auch in Nürnberg erneut zur Schließung von Schul- und Jugendeinrichtungen führte, musste Daniel größtenteils wieder allein durch den Tag kommen. Das frustrierte den 9-Jährigen, oft war er wütend. »Wozu soll ich denn überhaupt noch aufstehen, wenn wegen Corona keine Schule ist und es verboten ist, Freunde zu treffen? Meine Lehrer geben auch keine Rückmeldung auf die gemachten Hausaufgaben!«. Nicht nur Schulstoff ging Daniel immer mehr verloren. Es bröckelten auch die Grundlagen, um überhaupt erfolgreich Lernen zu können. Leonie Lawen, Teamleiterin in der Spiel- und Lernstube: »Nach dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 konnten wir schon sehen, wie die schulischen Leistungen der Kinder stark nachgelassen hatten. Manche taten sich schwer damit, wieder in der Gruppe zu sein, länger still zu sitzen, sich zu konzentrieren. Die weggefallene Struktur im Alltag hat bei den Kindern ein Riesenchaos im Kopf verursacht«.
Bis Weihnachten war vieles wieder aufgeholt. Dann kam der nächste Lockdown. Daniel sei im Distanzunterricht schließlich buchstäblich »vom Schirm verschwunden«. Er schwänzte häufiger den Onlineunterricht, bis den Hausaufgabenbetreuerinnen in der Lobsinger auffiel, was er bereits alles verpasst hatte. Daniel hat Angst vorm Distanzunterricht: »Wenn ich das alles nicht verstehe, kann mir das niemand richtig erklären. Ich schaff das dann nicht.«

Psychische Pandemiefolgen erschweren den Wiedereinstieg in der Schule

»Kinder brauchen nicht nur Wissen und Tablets. Sie brauchen Menschen, die begleiten, die motivieren und an ihren Auf und Abs Anteil nehmen«, sagt Alexandra Frittrang, Leiterin der Einrichtungen und Angebote von »Chancen für junge Menschen«. Das alles sei in den vergangenen Monaten zu oft auf der Strecke geblieben. Noch heute sei die Frage, wie die Jüngsten durch die Krise kommen, keine politische Chefsache. Stattdessen Glückssache, abhängig von einzelnen Lehrer*innen, Familienkonstellationen und den Ressourcen der Kinder selbst: Ausreichend Deutschkenntnisse, Rückzugsräume oder eine stabile Internetverbindung zuhause – viele hatten das nicht und haben entsprechend den Anschluss verloren. Statt Unterstützung aber erfuhren viele Familien Druck: »An die Kinder und Eltern wurden extrem hohe Erwartungen gestellt, machmal ohne Rücksicht auf Sprachbarrieren«, berichtet nicht nur Erzieherin Melanie Monticchio aus dem Diana-Hort der Stadtmission Nürnberg.

Zudem machten Existenzängste in den Familien, der fehlende Kontakt zu Gleichaltrigen oder individuelle Lern- und Entwicklungsstörungen vielen Kindern und Jugendlichen zu schaffen. So zeigte sich in Studien, u.a. vom Deutschen Jugendinstitut (DJI), das psychische Auffälligkeiten wie Stress und Depressionen bereits im Sommer 2020 bei Kindern und Jugendlichen von 18 auf 31% gestiegen waren. 45% der Kinder aus belasteten, armen Familien hätten Zukunftsängste, bilanziert der Deutsche Kinderschutzbund im März 2021. Für Herbert Biebl von den Schulförderkursen der Stadtmission äußerte sich das so: »Meine Schüler sind einfach nur müde. Sie können sich kaum konzentrieren oder sie weichen beim Videocall aus, um ihre Ruhe zu haben.«

»Dieses Dilemma wird nicht überwunden sein, wenn alle Kinder wieder normal Schule und Jugendfreizeiteinrichtungen besuchen können. Gerade jene Kinder, die schon immer strukturell benachteiligt sind, werden lange mit den Nebenwirkungen der Pandemie zu kämpfen haben«, sagt Stadtmissions-Vorstand Matthias Ewelt. Mit den Arbeitslosenzahlen steige auch die Zahl armer Familien und Kinder weiter. Doch selbst im zweiten Jahr der Pandemie werde beim Thema Schule fast ausschließlich ein entweder oder verhandelt. Schulen auf oder zu. »Maßgeblich muss aber sein, wie kriegen wir die Schulen unter allen Umständen offen für die Kinder? Für diesen politischen Fokus machen wir als Stadtmission Lobby.«

Was den Jungen und Mädchen helfe, seien persönliche Kontakte und individuelle, niederschwellige Förderung in geschütztem Rahmen. Im Programm »Chancen für junge Menschen« von der Stadtmission Nürnberg versuchen Pädagogen*innen genau das: Zum Beispiel mit dem kostenlosen Nachhilfeprogramm »1000+1 Stunde« oder den Schulförderkursen für Abschlussschüler*innen in kleinen, festen Gruppen – notfalls auch digital. Durch regelmäßige Telefonate mit Kindern und Eltern oder Einzel-Gesprächs- und Kreativangeboten an der frischen Luft. Oder die Pädagogen*innen schnüren für ihre Kinder und Jugendlichen Essenspakete »to go«, weil das Geld in den Familien kaum mehr für drei Mahlzeiten am Tag ausreicht. Es sind viele kleine Bausteine, die garantieren, dass die Kinder auch im Lockdown angebunden bleiben an die Hilfe der Stadtmission.

Spenden ermöglichen Chancen für benachteiligte junge Menschen

Mindestens 1/5 der Chancen-Angebote für benachteiligte Kinder und Jugendliche finanziert die Stadtmission aus Spenden. Das sind derzeit etwa 200 000 EUR pro Jahr. Stadtmissions-Vorstand Matthias Ewelt setzt auf die Nürnberger*innen. »Je mehr private Unterstützung wir bei dieser Arbeit bekommen, desto mehr Kinder und Jugendliche können wir fördern.«  

Spendenkonto:
Stadtmission Nürnberg e.V.
IBAN: DE71 5206 0410 1002 5075 01
BIC: GENODEF1EK1
Evangelische Bank eG
Stichwort: Chancen für junge Menschen

Zum Spendenflyer​​​​​​​

Hilfe im Leben – Stadtmission Nürnberg