Wohnprojekt JUMP: Schon groß, aber nicht erwachsen

Durch das Wohnprojekt JUMP gelingt Jungen und Mädchen, die unter Obhut der Jugendhilfe aufgewachsen sind, der Sprung in die Selbstständigkeit. In diesem Jahr feiert die Einrichtung der Stadtmission bereits ihr 20. Jubiläum.

NÜRNBERG.  Der Kinder- und Jugendhilfeverbund Martin-Luther-Haus fängt Jungen und Mädchen auf, die in ihren Familien vernachlässigt, misshandelt oder einfach nicht ausreichend versorgt werden können. Pädagoginnen und Sozialarbeiter fördern diese Kinder in oder außerhalb ihrer Familien. Oder sie sorgen für ein sicheres Ersatz-Zuhause, in dem sie groß werden können.

Und irgendwann wird jeder dieser Schützlinge erwachsen. Erwachsen, aber noch nicht selbstständig genug, um den eigenen Alltag allein zu meistern. Für Jugendliche, die an eben dieser Schwelle stehen, hat die Stadtmission vor genau zwanzig Jahren das JUMP ins Leben gerufen. Die Jungen und Mädchen leben hier in eigenen Apartments oder 2er-WGs. An den Nachmittagen und Abenden ist eine Betreuerin für sie vor Ort. Die Jugendlichen lernen in diesem Umfeld mit ihrem Geld zu haushalten, ihr Zuhause zu pflegen und ihren Alltag selbstverantwortlich neben Schule und Ausbildung zu organisieren. Das JUMP ist dabei keine Wohngruppe, sondern funktioniert eher wie ein Betreutes Wohnen. Vor 20 Jahren startete die Einrichtung mit diesem Konzept als Pionier in Nürnberg. Sechs Wohnplätze gibt es heute in dem Haus, einem Jugendstilbau auf dem Gelände des Martin-Luther-Hauses im Nordostpark.

 

Sprungbrett für Tobias

Dass das offene Konzept des JUMP Erfolg hat, zeigen Geschichten, wie sie Tobias Steger erzählt. 2014 zog er mit 16 im JUMP ein, weil er es bei seiner schwer alkoholkranken Mutter und dem repressiven Stiefvater nicht mehr aushielt. Tobias fehlte es zu Hause an allem: Essen, Hygiene, Kleidung, Anteilnahme. Die älteren Schwestern hatte die Mutter schon vor die Tür gesetzt. Zwar beteuerte sie immer wieder sich zu bessern, blieb aber in der Suchtfalle hängen. »Ich durfte zum Beispiel nur einmal in der Woche duschen und hab mich dann heimlich nachts gewaschen«, erzählt der heute 20-jährige Tobias. Die Konflikte zu Hause hinterließen Spuren: »So ab der 8. Klasse ging es bei mir richtig bergab«, erzählt Tobias. »Ich wurde gemobbt und bin mit den Noten abgesackt.« Schließlich habe er beschlossen, auszuziehen – obwohl ihm die verunsicherte Mutter drohte »wenn du gehst, bist du für mich gestorben«.

 

»Ich bin halt sehr zielstrebig«

Dass Tobias die Kraft aufbrachte, dennoch zu gehen, war ein Glücksfall: »Wäre ich nicht ins JUMP gekommen, hätte ich die Mittlere Reife nicht geschafft.«
Im JUMP war plötzlich alles anders als zu Hause. »Ich musste mich an die Regeln halten – montags einkaufen, mittwochs kleiner Putz, sonntags großer.« Tobias saugte diese Struktur regelrecht auf. »Ich habe seit über einem Jahr eine eigene Wohnung und halte dort streng denselben Rhythmus ein.« Auch sein Geld einzuteilen, fiel dem damals Sechzehnjährigen leicht. Bis zu seinem 18. Geburtstag blieben ihm 60 Euro Taschengeld im Monat, ab dem 18. Geburtstag standen ihm 112 Euro zur Verfügung. ¾ seines Azubi-Gehaltes gingen ans Jugendamt. »Das fand ich immer fair«, meint Tobias. Weil er auch zu Hause nie einen Euro hatte, sei ihm das Sparen leicht gefallen. Beharrlich habe er für seinen Führerschein zurückgelegt. »Später hat das Geld dann für meine erste Miet-Kaution gereicht«, berichtet er fröhlich.

 

»Ich hätte hier auch mein Leben lang gewohnt«

Schließlich war Tobias mit 18 reif für den Sprung in die Selbstständigkeit, auch wenn er gern sein ganzes Leben im JUMP geblieben wäre, wie er sagt. Da ist er bereits im zweiten Lehrjahr zum Maler und Lackierer. In Nürnberg St. Leonhard fand er eine kleine 1 ½-Zimmer Wohnung, die er selbst renovierte. Das Geld für Möbel bekam er vom Jugendamt.
Vor kurzem hat Tobias seine Gesellenprüfung bestanden und wurde von seinem Ausbilder übernommen. Obwohl sein Beruf ein »harter Job« sei, wie er sagt, mache er ihn gern. Und seine Zukunftspläne? Gebirgsjäger bei der Bundeswehr will er werden und später eine eigene Familie gründen, in der er selbst ein guter Vater sein könne.

Tobias‘ Weg zur Selbstverwirklichung scheint beeindruckend geradlinig. Dabei hatte auch er viele innere Kämpfe auszufechten. »Ich habe eigentlich immer gedacht, ich schaff das alles eh nicht und war misstrauisch.« Und auch heute beschreibt sich der 20-Jährige noch als »eher pessimistisch«, obwohl er dazu – von außen betrachtet – wenig Grund hat. Dass sich Tobias trotz widrigster Kindheit geradezu optimal entwickelt hat, ist Lohn seiner enormen Zielstrebigkeit und keinesfalls selbstverständlich. Ihm konnte das JUMP gerade jenen fruchtbaren Boden bieten, auf dem er sein Potenzial voll entfalten konnte.

 

Interview mit Tobias Steger (20), ehem. Bewohner des JUMP

 

Du hast 2 ½ Jahre im JUMP gewohnt, weshalb bist Du 2014 dort hingezogen?
Ich habe es bei mir zuhause nicht mehr ausgehalten. Meine Mutter und ihr Freund sind schwer alkoholkrank, jeden zweiten Tag wurde ein neuer  Bierkasten geholt. Sie hat sich einfach nicht gekümmert, wie das eine Mutter machen sollte. Meine beiden Schwestern waren schon rausgeflogen, die sind dann auch im Heim aufgewachsen. Auch mit dem Freund meiner Mutter gab es nur Stress. Es war einfach eine Katastrophe bei uns, mit allem: Hygiene, nichts im Kühlschrank und ich durfte zum Beispiel nur einmal in der Woche duschen. Ich hab mich dann heimlich nachts gewaschen.

Das ging einfach nicht mehr. Ab der 8. Klasse ging es in der Schule richtig bergab. Mit 15 hab ich schon mal einen Versuch gemacht, auszuziehen, da wollte ich in den »Schlupfwinkel«. Da ist meine Mutter aber eingeschritten, hat versprochen, sich zu ändern und so weiter. Wurde aber nix. Es wurde immer schlimmer, ein Jahr später hat sie dann auch selber gesagt, sie kann nicht mehr.

Wie bist Du zum JUMP gekommen?
Eine Familienhelferin von der Stadtmission hat mir dann nochmal verschiedene Sachen in Nürnberg vorgeschlagen. Ich hab zwei angeschaut und mich für das JUMP entschieden. Meine Mutter hat gesagt: »Wenn du gehst, bist du für mich gestorben.« Ich glaub‘, sie hat das in dem Moment gar nicht so krass gemeint, aber ich bin trotzdem weg.  Sie war enttäuscht von mir, hat das einfach nicht verstanden. Eigentlich bis heute nicht. Wir haben nur noch ganz selten Kontakt.

Was hast du selber erwartet vom JUMP?
Dass es besser wird. Viel mehr habe ich nicht erwartet.

Was hat sich im JUMP für Dich verändert?
Ich hätte die Mittlere Reife niemals geschafft, wenn ich zu Hause geblieben wäre. Auch sonst hat sich eigentlich alles geändert. Das war auch ein biss‘l kompliziert, ist ja klar. Ich habe mich an ganz klare Regeln und Termine halten müssen. Man geht hier auch allein einkaufen, da wird dann drauf geguckt. Montags war Einkaufen, mittwochs kleiner Putz, sonntags großer. Bis heute halte ich mich an genau diesen Rhythmus, auch in meiner eigenen Wohnung. Ich bin auch so vom Typ her so »was du heute kannst besorgen…«, sehr zielstrebig halt. Meine Aufgabenlisten, die im JUMP oben aushingen, waren auch immer grün – alles erledigt.

Von welchem Geld hast du im JUMP gelebt?
¾ von meinem Lehrgeld gingen ans Jugendamt, für die Fixkosten Miete, die Betreuung usw. Das war schon fair. Und dann gab es Taschengeld, bis ich 18 war, 60 Euro im Monat, danach 112 Euro. Zuhause hatte ich ja gar kein Geld, da konnte ich auch nicht damit umgehen lernen. Hier im JUMP kriegt man für alles ein Budget – Essensgeld, Frisörgeld, Fahrtgeld usw. Das Taschengeld hat mir gelangt, ich hab immer viel gespart. Für den Führerschein. Am Ende hab ich meine erste Kaution damit bezahlt.

Wie bist du mit deiner Vergangenheit und den ganzen Familienerlebnissen zurechtgekommen?
Ich bin sehr pessimistisch und denk immer im Voraus, ich schaff das nicht. Das ist immer so. Ich hab auch Therapie gemacht als ich noch im JUMP  war. Das war ganz gut, jemanden zu haben, mit dem man über alles reden  kann, auch die Geheimnisse ansprechen – mit jemandem, der Schweigepflicht hat.

Mit den Betreuern und den anderen Bewohnern hier haben wir zusammengehalten. Jeder hat seins gemacht, aber wir haben zusammen  gehalten. Das war auch ziemlich gut.

Hast du irgendwann selbst gemerkt, dass du aus dem JUMP raus musst?
Ich war eigentlich ziemlich lange im JUMP. Hab auch schon ziemlich früh gemerkt, dass ich reif bin für eine eigene Wohnung, aber ich war so froh, dass ich hier war. Ich hab mich mit allen verstanden. Ich hatte Leute um mich. Man kann hier nicht sein ganzes Leben lang wohnen, ansonsten hätte ich das schon gemacht. Wir haben dann immer mal darüber gesprochen und irgendwann hab ich angefangen Wohnungen zu suchen. Dass ich die bekommen habe, war auch Glück. Ich hab noch ziemlich viel selber renoviert – deshalb hat mich der Vermieter genommen.

Haben dir die Betreuer im JUMP geholfen?
Das meiste hab ich eigentlich alleine gemacht. Auch die Wohnungen angeschaut und so weiter. Aber wenn ich Fragen hatte, war jemand da und hat auch mal mit vermittelt – bei den Wohngenossenschaften und so.

Hast du dich erwachsen gefühlt beim Auszug?
Ja. Aber das hab ich vorher auch schon.

 
Das Interview führte Tabea Bozada, Pressesprecherin der Stadtmission Nürnberg e.V.

 

Hilfe im Leben – Stadtmission Nürnberg