Familien unter Druck: »Heime sind mehr als eine letzte Option«

Corona wirkt wie ein Brandbeschleuniger in vielen Familien. Insbesondere wo Eltern und Kinder schon vor der Pandemie am Limit waren, ist die Lage eskaliert. Das Jugendamt muss vielfach einschreiten, in Nürnberg werden die ambulanten Familienhilfen trägerübergreifend ausgebaut. Ein Heimaufenthalt dagegen gilt meist erst als »letzte Option« – zu Unrecht, findet Marco Strasser, der die Heilpädagogischen Wohngruppen (HPWG) im Martin-Luther-Haus leitet.

Isolation, Doppelbelastung von Eltern, seit Monaten kein Tapetenwechsel: Das hat alle Familien im vergangenen Jahr extrem unter Druck gebracht und viele ohnehin belastete zum Zusammenbruch geführt. Bereits bis zum Sommer 2020 hatte sich die Zahl psychisch belasteter Kinder in Deutschland verdoppelt, überdurchschnittlich viele davon aus sozial benachteiligten, marginalisierten Familien (COPSY-Studie). Sogenannte »high-risk-Familien«, die bereits vor der Coronakrise an die Jugendämter angebunden waren, blieben natürlich auch in der Pandemie durch ambulante Erziehungshilfen betreut – angesichts der sich zuhause ballenden Konflikte wurde das dem Hilfebedarf der Familien allerdings oft nicht gerecht.

Kinder, meist die schwächsten Glieder in der Kette, reagieren auf ihre Weise: Essstörungen oder Suizidgedanken seien typisch. »Oder sie ziehen sich total zurück, verbunkern sich stundenlang hinter Mobiltelefon und Computer, attackieren andere oder schwänzen den Unterricht.« Solche destruktiven Verhaltensweisen können sich über Jahre verfestigen. Vor allem, wenn Eltern nicht die Kraft haben, zu intervenieren, weiß der seit 17 Jahren im Martin-Luther-Haus tätige Sozialpädagoge Marco Strasser. Deshalb, sagt er, sei es wichtig, dass Eltern und Jugendämter »die Option Heim« nicht erst dann für ihr Kind in Betracht ziehen, wenn »der Leidensdruck unerträglich ist«. Das gelte auch für Familien, die erst in den letzten Pandemiemonaten instabil geworden seien.

Familienähnliches Setting, statt Schlaf- und Speisesäle

Das stereotype Kinderheim gibt es heute ohnehin nicht mehr. Familienähnliche Wohngruppen haben diese abgelöst. Auch in den Heilpädagogischen Wohngruppen (HPWG) im Martin-Luther-Haus der Stadtmission leben bis zu 38 Kinder in kleinen, festen Gemeinschaften von max. sieben Jungen und Mädchen zusammen. Sie kommen hierher, wenn ihnen ihre Eltern kein sicheres, liebevolles Umfeld zum Aufwachsen bieten können. Oft gilt das nur für einen befristeten Zeitraum. Wichtig dabei: »Wir ergänzen die Familie eines Kindes, wir ersetzen sie nicht«, betont Einrichtungsleiter Marco Strasser. Denn fast jedes Kind brauche den Bezug zu seinen Eltern, um sich gut entwickeln zu können. Auch schlimme Erfahrungen von Gewalt, Vernachlässigung oder enttäuschte Bindungen können dieses Grundbedürfnis meist nicht zerstören. Die HPWG haben es sich deshalb zum Prinzip gemacht, immer mit der ganzen Familie eines Kindes zu arbeiten. Während das Kind in seiner Wohngruppe umsorgt und gefördert wird, arbeitet eine Familientherapeutin aus dem übergeordneten »familienpädagogischen Dienst« der Einrichtung nur mit den Eltern.

Für eine befristete Zeit raus aus der Familie

Auch Maximilian* (12) lebt mit sechs anderen Kindern in einer der fünf Wohngruppen der HPWG. Ende des Jahres wird er wieder zu seiner Mutter ziehen. Maximilian ist zur Ruhe gekommen, schon lange ist er nicht mehr ausgerastet oder handgreiflich geworden. Gleichermaßen hat auch seine Mutter in den vergangenen Jahren viel daran gearbeitet, wieder eine vertrauensvolle Beziehung zu ihrem Jungen aufzubauen. Begleitet durch Familientherapeutin Renate Körber näherte sie sich Schritt für Schritt wieder an ihren Sohn an. Aus vorsichtigen, gemeinsamen Spaziergängen im Beisein der Therapeutin, wurden ganze Nachmittage zu zweit, bis sie sich schließlich traute, Maxi auch wieder am Wochenende und in den Ferien zu sich zu holen. Maximilian freut sich, bald wieder ganz bei der Mutter wohnen zu können. Bis dahin will er es noch schaffen »sich nicht mehr so oft provozieren zu lassen oder andere zu provozieren.«

Vertrauen von Kindern und Eltern gewinnen

Das Beispiel von Maximilian zeigt: Wenn es in einer Familie so kracht, dass Kinder in Gefahr sind oder Eltern verzweifeln, müssen sich alle verändern, damit Geschwister und Erwachsene eine Chance haben, wieder in einen geregelten, friedlichen Alltag miteinander zu finden. »Manchmal kann das viel besser gelingen, wenn ein Kind für eine befristete Zeit das Familiensystem verlässt – natürlich ohne den Bezug zu seinen Eltern aufzugeben«, betont auch Sozialarbeiterin Leonie Neukamm.

»Niemand trägt Schuld, wenn Eltern mit ihren Kindern überfordert sind«, so Neukamm. Denn meistens kommen viele Belastungen zusammen: Geldsorgen, Trennungskonflikte, aber auch Suchtprobleme, psychische Erkrankungen und Gewalt in der Familie, die sich mitunter über Generationen reproduziert. »Ins Heim zu müssen – für viele klingt das noch immer wie eine Drohung. Dabei ist die Zeit in einer Wohngruppe für Kinder und Eltern eher eine Art Rehamaßnahme für die ganze Familie.«

Die intensive Elternarbeit ist eine »Spezialität« der Heilpädagogischen Wohngruppen im Martin-Luther-Haus. Die zusätzlichen Personalkosten, die man dafür investiere, zahlten sich erfahrungsgemäß aus. So gelingen die Rückführungen von Kindern in ihre Familie vergleichsweise besser und langfristig im Gegensatz zu stationären Einrichtungen, in denen Eltern »nur nebenbei« angebunden sind.

Fast einzigartig in Deutschland: Tiere im pädagogischen Dienst

Auch die Kinder können sich in ihrer kleinen Wohngruppe, jenseits des problembehafteten Familiensettings zuhause, selbst wieder anders erleben und reflektieren. Neben Psychologen*innen und Pädagogen*innen, die sie in Spiel und Gespräch therapeutisch begleiten, ihnen verlässliche Beziehungen anbieten und kontinuierlich ihre sozialen Kompetenzen schulen, sind es aber auch die Tiere des Martin-Luther-Hauses, die eine heilsame Wirkung auf die Kinder entfalten. Das Reit- und Therapiezentrum Carpe-Diem ebenso wie der Jugendbauernhof steht ausschließlich Jungen und Mädchen aus dem Martin-Luther-Haus offen – deutschlandweit gibt es nur sehr wenige, ähnlich große stationäre Jugendhilfeeinrichtungen, die die »tiergestützte Pädagogik« so ausgebaut haben, wie das Martin-Luther-Haus der Stadtmission Nürnberg. »Viele unserer Schützlinge können mit den Tieren viel besser umgehen, als mit Menschen. Die Tiere haben einen Vertrauensvorschuss – die Kinder können mit ihnen so viel lernen und wahrnehmen, was ihnen mit Menschen schon lange nicht mehr gelingt: Rücksicht nehmen, Geduld üben, Bindung zulassen und natürlich selbst Vertrauen zurückbekommen«, freut sich Marco Strasser.

All diese Angebote sollen »Familien ergänzen, nicht ersetzen«, betont der Einrichtungsleiter und hofft, dass er und sein Team in den kommenden Monaten viel dazu beitragen können, die coronabedingte »Bugwelle« hilfebedürftiger Familien zu bewältigen.

 

Die Heilpädagogischen Wohngruppen (HPWG) ist eine von zehn Einrichtungen im Jugendhilfeverbund Martin-Luther-Haus der Stadtmission Nürnberg. Etwa 200 Kinder werden hier in stationären, teilstationären und ambulanten Diensten betreut und gefördert.

Hilfe im Leben – Stadtmission Nürnberg