Geschlossene Gesellschaft

Das Coronavirus zwingt Bewohner*innen und Mitarbeitende in Pflegeheimen dazu, sich abzuschirmen. Was an neuen Ideen und Eifer entsteht, wenn liebgewonnene Routinen abgesagt werden müssen, zeigt ein Blick ins Pflegezentrum Hephata.

Insa van Oterendorp - freundliches Gesicht, lange braune Mähne, ein buntes Tuch im Haar – schiebt einen Rollstuhl durch den Garten des Hephata Pflegezentrums. Sie ist mit Ingrid Steinwender (76) auf dem Weg zum Gartentor. Dort wartet Tochter Regina – jede Woche, immer mittwochs steht sie hier. Ein Strauß Tulpen leuchtet in ihrer rechten Hand. Ihr steht das Lächeln im Gesicht, als sie die Mutter im Rollstuhl mit van Oterendorp heranrollen sieht.

Improvisieren und Digitalisieren: Sozialarbeit unter Senioren in Coronazeiten

Seit das Coronavirus das Leben im Land auf den Kopf gestellt hat, sind auch Familienbesuche für die Bewohner*innen in Seniorenzentren keine Selbstverständlichkeit mehr. Seit 30. März dürfen Angehörige das Hephata von der Stadtmission Nürnberg nur noch in ganz wenigen Ausnahmefällen betreten. Eine innige Umarmung von den Kindern, zusammensitzen, gemeinsam Fotos anschauen, ein Kuss der Enkel– all das fehlt den Bewohner*innen seither. Nur so lässt sich das Risiko einer Coronainfektion für die alten, durch den Virus besonders verwundbaren Menschen in Schach halten. »Unsere Bewohnerinnen, aber auch ihre Verwandten bedrückt das natürlich sehr«, sagt Insa van Oterendorp. Sie leitet den Sozialdienst im Hephata, der jetzt dafür sorgen muss, »dass es nicht zu ruhig wird im Haus«, wie sie sagt. Da ist in diesen Wochen viel Kreativität und Improvisationstalent gefordert. Damit sich Eltern und Kinder, alte Freunde und Eheleute trotz der Besuchsverbote zumindest sehen und hören können, organisieren van Oterendorp und ihr Team die Gartentor-Besuche – Begegnungen mit Sicherheitsabstand. »Die Szenen am Tor sind sehr bewegend und voller Emotionen auf beiden Seiten: Die Freude, sich endlich wieder zu sehen, die Trauer sich nicht drücken zu können, Hoffnung und Erleichterung, dass Mama gesund ist, der Abschiedsschmerz« – all das erlebt van Oterendorp täglich mit.

Für Konstellationen, wo Verwandte weit weg wohnen oder Bewohner*innen selbst den Weg zum Gartentor nicht mehr schaffen, haben die Kollegen*innen Tablets und Smartphones angeschafft, auf denen Angehörige ihre Lieben im Haus per Videoanruf erreichen können. Das sei totales Neuland für viele Senioren*innen und klar, »auch Videoanrufe können wirkliche Begegnungen niemals ersetzen«, meint die 53-jährige Sozialpädagogin. Gleichzeitig rührt es sie, wenn sie am Rande beobachtet, wie die oft Hochbetagten »Kusshände von Bildschirm zu Bildschirm schicken« oder von ihren Kindern auf »einen Spaziergang durch den alten Garten« mitgenommen werden.

Nicht nur die Begegnungen zwischen Angehörigen und Bewohnern*innen haben sich radikal verändert. Auch der Hausalltag des Hephata, wo 150 pflegebedürftige Menschen zuhause sind, ist ein anderer zu Coronazeiten. Die großen Hauskonzerte jeden Monat, Einkaufstouren und gemeinsame Backrunden am Freitag sind vertagt. Statt selbstgebackenen Kuchen gibt es jetzt Eisbecher, den die Bewohner*innen zwar mit Abstand zueinander, aber doch immerhin gemeinsam in ihren Wohnbereichen genießen können.

Musik bleibt Seelenfutter

Singen und Musik erleben – das war im Hephata schon immer wichtig. Dank der originellen Angebote ganz unterschiedlicher Kulturschaffender, gilt das auch weiterhin. Insa van Oterendorp: »Viele unserer Ehrenamtlichen stehen jetzt vor den Balkonen und singen mit unseren Bewohnern. Auch ein Drehorgelspieler und ein anderer mit Akkordeon zogen hier schon von Fenster zu Fenster«. Kurz nach Ostern hätte sogar eine sechsköpfige Familie, die mit ihren Instrumenten als mehrstimmiges Ensemble aufgetreten sei, für viele »Ohs!« und »Ahs!« gesorgt. Für einen 96-jährigen Bewohner war das Seelenfutter. »Das war sehr sehr schön. Ich hatte fast schon aufgegeben. Jetzt ist meine Laune wieder da«, hatte er sich bei den Kollegen*innen vom Sozialdienst bedankt. »Wenn das Wetter mitspielt, machen wir jetzt zusammen mit den Musikern der Staatsphilharmonie regelmäßig Gartenkonzerte«, freut sich van Oterendorp. Den Auftakt machten zwei Cellistinnen der Staatsphilharmonie am vergangenen Freitag. Zur Musik schenkte der Sozialdienst alkoholfreien Sekt an die lauschenden Bewohner*innen aus. »Wir wollten richtig für Opernhausfeeling sorgen«, so die Sozialdienstleiterin.

Schwermut, Durchhalteparolen und neuer Eifer bei Bewohner*innen

Die Bewohner*innen sollen so wenig wie möglich davon spüren – doch natürlich steht das gesamte Team im Hephata angesichts der Virusbedrohung vor der Tür unter extremer Anspannung. Insa van Oterendorp und ihre Kollegen*innen nutzen jetzt jede Gelegenheit für einen Plausch oder gemeinsamen Spaziergang mit den Senioren*innen. Die Runden seien ein »Stimmungsbarometer«. Van Oterendorp ist überzeugt, dass das seelische Wohlbefinden der Bewohner*innen für ihre Gesundheit ebenso wichtig ist, wie die strengen Hygiene- und Sicherheitsregeln, die den Alltag im Hephata jetzt bestimmen. »Der Schwermut ist schon zu spüren«, sagt sie. Immerhin hätten die Senioren*innen, obwohl sie zu den durch den Virus am meisten gefährdeten Menschen gehören »keine Angst« und fühlten sich geschützt. Erst heute Morgen – es ist bereits Woche vier, in der das Besuchsverbot gilt – bemerkte eine 88-jährige Dame, die seit zwei Jahren im Hephata wohnt: »Es ist halt so, wir haben im Leben schon ganz andere Sachen durchgestanden.«

Eine Etage drüber wohnt Elfrida Krebs, 86. Sie will die Krise nicht nur »durchstehen«, sondern anpacken und mithelfen. Elfrida Krebs ist auch im hohen Alter noch geschickt mit den Fingern. Stricken, Nähen, Basteln für jede Jahreszeit – dabei blüht sie auf. Die Handarbeit ist seit ihrer Jugendzeit Teil ihres Alltags – das wissen auch ihre Pflegerinnen. Elfrida Krebs sitzt jetzt täglich an ihrer Nähmaschine und näht voller Eifer Masken für Mitbewohner*innen und Bekannte. »Die Nachfrage ist groß. Alle, die eine Maske bestellen, bekommen auch eine. Die sehen ja auch richtig gut aus«, bekundet Sozialdienstleiterin Insa van Oterendorp mit einem Lächeln.

Wie lange Bewohner*innen und Kollegen*innen im Hephata noch auf sich geworfen sind, weitermachen müssen als »geschlossene Gesellschaft«, ist ungewiss. Vielleicht Wochen, eher Monate. Die Tochter von Ingrid Steinwender, die jede Woche am Gartentor wartet, bedrückt diese fehlende Perspektive. Sie sagt aber auch: »Ich habe Vertrauen, dass es Mama hier gut geht.« Sie sei einfach dankbar, wie das Team im Hephata an die persönlichen Limits gehe. Van Oterendorp verbindet die Corona-Krise mit einer Hoffnung. »Ich hoffe, dass die Pandemie als nachhaltiges Signal auf Politik und Gesellschaft wirkt. Um die Strukturen und Entlohnung in der Pflege endlich attraktiver zu gestalten. Das war auch ohne Corona längst überfällig.«

Hilfe im Leben – Stadtmission Nürnberg